Jarvis und ich blickten uns an. Vorsichtig schnupperte Jarvis an seinem Wein und rümpfte die Nase. »Ob sie will, daß wir uns geehrt fühlen? Sind wir jetzt große Jungen?«
»Sie will jedenfalls, das wir das trinken«, antwortete ich und nippte vorsichtig. Wir bekamen manchmal Wein, mit Wasser gemischt, zu trinken, was nicht besonders gut schmeckte und nicht besonders schlecht. Reiner Wein dagegen lag mir weniger. Aber mit einem Kelch konnte ich fertig werden. Man konnte sich auch Sachen vorstellen, die schlechter schmeckten.
»Du trinkst das wirklich?« fragte Jarvis leise und starrte mich entgeistert an.
Ich nickte. »So schlimm ist es nun auch nicht. Und wir machen Mutter damit eine Freude.«
Jarvis probierte einen Schluck, und schüttelte sich. »Puh! Freude hin oder her, das dreht mir den Magen um.«
Ich sah seine Augen suchend durch den Saal irren - er suchte eine Gelegenheit, den Kelch unbemerkt abzustellen, ich ahnte es. Und ich wußte, wenn unsere Mutter das herausfand, würde sie enttäuscht sein. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Und ich wollte nicht, daß irgend jemand Jarvis für einen Feigling hielt. Schnell trank ich meinen Kelch leer und drückte ihn Jarvis in die Hände. In dem Moment verstand ich wirklich, warum Jarvis seinen Wein nicht trinken wollte. Ich schluckte mehrmals nach, um den Geschmack loszuwerden, und sehnte mich nach einem Becher Wasser. »Hier«, sagte ich dann leise. »Jetzt gib mir deinen, und niemand wird etwas merken.«
Es war unritterlich und unehrlich, was ich da tat, aber es galt die Ehre meines Bruders zu beschützen, und dafür mußte ich auch das opfern können, woran ich glaubte, schon damals. Jarvis zögerte nicht, mitzuspielen. So stand ich mit meinem zweiten Kelch voll Wein da. Als ich unsere Mutter auf uns zukommen sah, trank ich ihn schnell aus - dann konnten wir unsere Becher wieder zurückgeben und hatten es hinter uns. Sie war zufrieden, und wir durften ins Bett.
»Das ist fein!« rief sie, als wir ihr die Becher reichten. »Hat es euch geschmeckt, ja?« Wir nickten brav -nicken war nicht wirklich lügen… »Und Byron hat schon richtig rote Bäckchen bekommen!«
Ich hoffte, daß niemand sie sonst auf sie achtete. Wenn uns jetzt wieder alle anstarrten… Aber ich sagte nichts. Ich hatte ein unangenehmes pappiges Gefühl im Mund, als klebe mir die Zunge am Gaumen fest, und sehnte mich nach einem Schluck Wasser. Jarvis wippte ungeduldig mit dem Fuß.
Doch unserer Mutter kannte keine Gnade. Statt daß sie uns gehen ließ, winkte sie wieder dem Mundschenk - und gab uns die Kelche wieder zurück, wieder mit Wein gefüllt!
»Ich ahne das Schlimmste«, flüsterte Jarvis, kaum daß sie wieder fort war. »Sie läßt uns hier nie wieder weg!«
Ich antwortete nicht, sondern klappte den Mund auf und zu, um zu sehen, ob er wirklich zusammenklebte. Das tat er nicht. Jarvis blickte mich mit schiefgelegtem Kopf an. »Byron! Laß das Schmatzen! Sonst kommt sie gleich zurück, und wir müssen auch noch das ganze Spanferkel aufessen.«
Ich mußte lachen bei der Vorstellung. Das machte ein halbes Schwein für jeden - aber wer sollte den Kopf bekommen, und wer das Hinterteil?
»Hör auf!« zischte Jarvis. »Wenn dich jemand sieht! Dann denkt sie, du findest es hier lustig!«
Ich gehorchte ihm, aber mißmutig. Seit wann durfte Jarvis mich herumkommandieren? Er war mein Bruder, aber ich durfte lachen, wann ich wollte. Grimmig trank ich meinen Wein aus - in dem Moment war Jarvis der eigentliche Grund, warum es mir auf diesem Ball nicht gefiel. Aber ich konnte ihn auch nicht alleine hier stehenlassen.
»Jetzt gib mir deinen«, sagte ich. »Dann kannst du auch gehen.« Vielleicht sagte ich es etwas lauter als beabsichtig. Aber nicht wirklich unfreundlich -
Jarvis blickte mich seltsam an. »Geht es dir gut, Byron?«
»Was meinst du?« fragte ich zurück.
»Ich glaube, du solltest meinen besser nicht auch noch trinken«, sagte Jarvis. »Du bist irgendwie… komisch.«
»Mir geht es gut«, sagte ich. Tatsächlich war mir ein wenig schwindelig, aber jetzt war nicht der Moment, um das Jarvis auf die Nase zu binden. »Wirklich gut«, fügte ich hinzu, sicherheitshalber.
Jarvis schien mir nicht zu glauben. »Aber?« fragte er.
»Meine Zunge ist pelzig«, antwortete ich. Das stimmte. Sie fühlte sich pelzig an, und dicker als sonst. »Schau mal.« Ich streckte Jarvis meine Zunge hin. »Ist da Pelz drauf?« Ich konnte es selbst nicht sehen, so sehr ich auch schielen mochte und mir die Zunge verrenken. Mit Daumen und Zeigefinger prüfte ich sie, aber ich konnte keinen Unterschied zu sonst merken - aber ich faßte sonst auch niemals meine eigene Zunge an…
»Byron, hör auf!« zischte Jarvis. »Nimm die Zunge rein! Du machst dich zum Gespött des Abends!«
Aber diesmal ließ ich mich nicht von ihm einschüchtern. Statt dessen versuchte ich ihm in den Mund zu fassen, um nachzuprüfen, ob sich seine Zunge anders anfühlte als meine - und ich wunderte mich keinen Moment lang darüber, was ich da tat, und natürlich begriff ich auch nicht, daß Jarvis Recht hatte. Zu meinem Glück standen wir in einer Ecke, und niemand sah, was in mich gefahren war. Und es sah auch niemand, wie Jarvis mich in die Finger biß, daß ich erschrocken meine Hand zurückzog und seine Zunge losließ.
Jarvis schnaubte, während ich auf meinen schmerzenden Zeigefinger pustete. »So«, sagte er. »Mir reicht es! Wenn du dich endgültig zum Narren machen willst, kannst du von mir aus meinen Wein auch noch haben. Aber dann beschwer dich nicht, wenn dich nachher alle Leute auslachen.« Er drückte mir seinen Kelch in die Hand, und ich, obwohl mir zugegeben schon etwas flau war, trank ihn leer. Ich wollte Jarvis beweisen, daß er mich unterschätzte, daß ich soviel vertrug, auch wenn ihm selbst schon von ein paar Schlucken schlecht wurden…
Jarvis beobachtete mich, als erwarte er, daß ich im nächsten Moment allen Wein wieder von mir geben würde. »Und er tut es tatsächlich«, murmelte er. »Byron, wenn du dich jetzt sehen könntest - ich glaube, du bist vollständig betrunken.«
Ich wollte ihm widersprechen, ich wollte ihm zeigen, daß ich noch Herr meiner selbst war, und ich würde auch meine Zunge in meinem Mund lassen und meine Finger aus seinem, und es ginge mir gut - aber alles, was ich statt dessen heraus brachte, war, daß mir ganz und gar schlecht war. Und daß ich mich hinsetzen wollte. Und daß mir schlecht war - aber das hatte ich ihm ja schon gesagt.
Mein Bruder war nie so stark wie ich, und deswegen bin ich mir sicher, daß ich noch auf eigenen Füßen stand, als er mich aus dem Saal schleppte - aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Jarvis schleifte mich über den Gang zu einem Fenster, und dann lief los und suchte er Sybald, während ich noch begriff, was es bedeutete zu sterben, bevor ich irgendwie davondämmerte.
Ich erwartete, daß Sybald sehr wütend mit mir sein würde, weil ich mich betrunken hatte. Es war so weit entfernt von den Rittertugenden, wie es nur irgend ging - aber falls Sybald mit mir schimpfte, bekam ich zumindest nicht viel davon mit. Aber vor allem war Sybald ärgerlich mit meiner Mutter. Und mit Jarvis - ausgerechnet. Obwohl der doch wirklich nichts von dem Wein getrunken hatte… Ich mußte jedenfalls die nächsten Tage im Bett verbringen - für mich, der sonst nie krank war, ein schreckliches Gefühl. Dabei wollte ich doch lernen, ein Schwert zu führen! Vielleicht sollte das meine Strafe sein. Von Jarvis sah und hörte ich in dieser Zeit nichts. Erst zwei Tage später sah ich ihn wieder. Er war sehr blaß und sah unglücklich aus.
»Falls es dich tröstet«, sagte er, »mich hat Sybald auch bestraft.« Er verriet mir nie, wie.
Ich versprach ihm, daß ich nie wieder betrunken sein wollte, und er versprach mir das gleiche. Danach waren wir uns endlich wieder gut. Und das Beste war: Wir mußten nie wieder auf einen Ball unserer Mutter.
aus: »Klagende Flamme« (2003)