Sir Rodrick nickte. »Es gab in den letzten Tagen wieder ein Zugunglück, da werde ich hellhörig, wenn plötzlich bleiche kleine Mädchen in Bahnhöfen auftauchen. Aber wie auch immer. Etwas anders«, sagte er. »Ich habe jemanden gefunden, der das Mädchen für die Übergangszeit nimmt, bis wir herausgefunden haben, wer es ist. Mr. Stokes-Fenton und seine Frau freuen sich sehr, der Kleinen ein liebevolles Zuhause zu geben. Sie müssen sich keine Sorgen machen, was das angeht.«
Percy fühlte, wie alles Blut sein Gesicht verließ. »Das können Sie nicht machen«, flüsterte er, und seine Stimme musste dem Blut gefolgt sein, so heiser und kraftlos klang sie. »Vivian braucht mich.«
»Ihr Name«, sagte Sir Rodrick und stand auf, »ist nicht Vivian. Und mir ist egal, ob sie Ihnen folgt wie ein Gänseküken seiner Mutter. Sie sind nicht geeignet, ein Kind zu erziehen, geschweige denn ihm ein angemessenes Zuhause zu bieten. Sie mögen Miss Konstantijn bezirzen und ihre Hauswirtin um den kleinen Finger wickeln können, aber vor mir brauchen Sie sich nicht zu verstellen. Sie sind ein Wrack, Mr. Jessup, und ich vertraue Ihnen dieses Kind nicht an.«
»Das haben Sie nicht zu entscheiden«, sagte Percy durch zusammengebissene Zähne.
Sir Rodrick blickte über die Schulter, während er zu seinem Kabinett ging, völlig ungerührt. »Sie haben mir den Auftrag gegeben, alles Nötige zu tun«, sagte er. »Hätten Sie sich nicht entschieden, ausgrechnet zu mir zu kommen mit dieser Photographie, ich würde Ihnen jetzt Recht geben. Aber Sie sind zu mir gekommen, Sie haben Ihr Problem zu meinem gemacht, und jetzt ist es meine Sache. Dieses Mädchen ist ein offizieller Fall der Upminster-Gesellschaft, und damit untersteht sie meiner Hoheit.« Er nahm zwei Brandyschwenker aus dem Schrank und eine Kristallkaraffe, schenkte zwei Gläser ein und trug sie zum Schreibtisch, wo er eines vor Percy hinstellte. »Sie trinken doch noch, oder wie lange hatte die Heilsarmee Sie in den Fängen?«
Percy nickte mit verkniffenem Gesicht und bewegte den Schwenker in der Hand hin und her. Ohne die Heilsarmee wäre er sicher ganz anderswo gelandet, und sicher nicht hier. »Ich verstehe ja, dass Sie sich um das Kind sorgen«, sagte er, ohne auf den letzten Satz einzugeheb. »Und ja, meine Junggesellenwohnung ist nicht der Ort, wo man ein kleines Mädchen erwartet. Die Stokes-Fentons wollen sicher, ebenso wie Sie, nur das Allerbeste. Aber nicht ich habe Vivian ausgesucht, sie hat sich mich ausgesucht. Sie vertraut mir. Ich denke, ich kann sie soweit auftauen, dass sie ihre Sprache wiederfindet. Es geht nicht nur darum, ein großes Anwesen zu haben mit einem gut ausgestatteten Kinderzimmer und eigener Nanny. Es geht darum, einem Kind das zu geben, was es braucht, und dieses Kind braucht mich.«
Sir Rodrick schüttelte den Kopf, und obwohl er selbst noch keinen Schluck getrunken hatte, stand er auf und holte die Karaffe an den Tisch, um Percy nachzuschenken. »Das Kind braucht Sie nicht«, sagte er im väterlichem Tonfall. »Sie glauben, Sie brauchen das Kind, weil Sie denken, wenn wir seine Herkunft aufklären, werden Sie im gleichen Umschlag Ihre eigenen Wahrheiten finden. Ich denke nicht, dass Ihnen das bewusst ist, und Sie denken ernsthaft, dass Sie die einzige Rettung eines verlorenen kleinen Mädchens sind. Aber der Einzige, der hier gerettet werden muss, sind Sie.« Er schenkte nach, bevor Percy auch nur realisiert hatte, dass sein Glas tatsächlich wieder leer war. »Der Chauffeur der Stokes-Fentons ist bereits auf dem Weg hierher. Er wird Sie nach Hause fahren« - sein Blick sagte, dass Percy in keiner Verfassung war, um noch allein auf die Straße zu gehen, und das lag nicht nur am Brandy - »und das Mädchen mitnehmen. Glauben Sie mir, es ist das Beste. Nicht unbedingt für das Kind, aber in jedem Fall für Sie.«
Percy zwinkerte. Er wusste, er wollte noch etwas sagen, aber alles, was ihm einfiel, war, wider besseres Wissen sein Glas zu auszutrinken. »Sie können es versuchen«, sagte er. »Aber Sie werden sehen, was Sie davon haben. Das Mädchen… das hat seinen eigenen Willen.« Er musste lächeln bei der Vorstellung, wie er versucht hatte, Vivian in die U-Bahn zu bekommen. Dem Stokes-Fenton’schen Chauffeur würde es nicht besser ergehen. Und am Ende musste auch Sir Rodrick einsehen, dass das Mädchen doch am besten bei Percy untergebracht war.
*
Die Heimfahrt war ein wenig schwammig. Percy wusste, dass er zu viel getrunken hatte, und verfluchte Sir Rodrick dafür, dass der zu gut wusste, wo Percys Schrauben saßen und wie man sie zu drehen hatte. Unter normalen Umständen hätte er sich gefreut, in der brandneuen Crossley-Limousine der Stokes-Fentons nach Hause kutschiert zu werden wie ein Lord, aber schon, als der Fahrer ihm mit dieser überdiskreten Miene in den Wagen geholfen hatte, als könne Percy, der nur ein wenig unsicher auf den Beinen war, nicht mehr stehen, war ihm die Laune an einer Spazierfahrt vergangen. Die Vorstellung, diesem Mann gleich das Kind anzuvertrauen, widerte ihn an, und man sollte sich nicht anwidern lassen, wenn man betrunken war. Percy wurde schlecht davon, aber um sich in den Fond des Wagens zu übergeben, wie es den Stokes-Fentons recht geschehen wäre, war er zu nüchtern.
Sir Rodrick hatte sehr genau kontrolliert, wie viel Percy trank, und dafür gesorgt, dass der die erste streitsüchtige Phase hinter sich hatte und in das Reich der Betäubung eintrat, wo man so ziemlich alles mit ihm machen konnte, bevor er ihn dem Chauffeur überließ. Aber als sie in die Aldebert Terrace einbogen und der Fahrer den Wagen verlangsamte, während er wartete, dass Percy ihn vor dem richtigen Haus anhalten ließ - wirklich, eine gute Frage, wo die alle gleich aussahen - hatte Percy schon wieder fast vergessen, worum es eigentlich ging. Diesmal brauchte er die Hilfe des Fahrers wirklich, um aus dem Auto zu kommen, und in der Abendluft war ihm schwindelig.
Percy blieb stehen, streckte sich und atmete tief durch, bevor er die Stufen hochstieg. Er ahnte, dass die halbe Nachbarschaft in den Fenstern hing, nicht seinetwegen, sondern wegen der Limousine, und auch wenn er hier immer noch wie ein Fremder ein und aus ging, wollte er doch Mrs. Gyrth nicht in schlechtes Licht rücken. Wenigstens wartete der Fahrer im Wagen, aber das hieß auch, dass Percy selbst die Aufgabe haben musste, Vivian dem Fremden auszuliefern. Wenn sie danach überhaupt niemandem mehr traute, wusste er, wem er das zu verdanken hatte.
Mrs. Gyrth sah nicht gerade begeistert aus, als sie ihm die Tür öffnete - immerhin, er hatte auf der richtigen Seite geklingelt. Was mussten die auch eine Treppe für zwei Türen bauen? »Mr. Jessup«, sagte sie streng. »Sie sind betrunken.« Wenigstens war das ein Anblick, an den sie nicht gewöhnt war. Die Heilsarmee hatte Percy schon die übelsten Angewohnheiten ausgetrieben. Es war nicht das erste Mal, natürlich, aber doch selten genug, dass sie ihm noch nie Vorwürfe deswegen gemacht hätte. Jedenfalls nicht, wenn er wieder nüchtern war.
Percy lächelte schuldbewusst. »Es wird nicht wieder vorkommen.« Er schaffte es, sich mit Würde zu halten. Sie sollte nicht denken, dass er sturzbetrunken war und sich kaum auf den Füßen halten konnte, sondern eher, er hätte einen Drink unter Gentlemen eingenommen… Und immerhin, seine Magie hatte er nicht verloren.
»Na, Sie haben Ideen!«, fing Mrs. Gyrth an. »Machen sich einen schönen Abend und lassen mich mit dem Kind allein! Die arme Kleine, sie hätte unentwegt nach Ihnen gefragt, wenn sie denn sprechen könnte, und was sollte ich ihr dann sagen?«
»Sehen Sie, die Sorge haben sie bald nicht mehr.« Percy musste gegen sein eigenes Nuscheln ankämpfen, aber nach ein paar Wörtern wurde er warm, kam in Fahrt und musste sich keine Sorgen mehr machen. »Es hat sich da etwas ergeben, wissen Sie… Ich hab Ihnen doch von meiner Base erzählt, Yolanda, der Mutter dieses armen Mädchens? Ja, ich dachte, ich wär der einzige lebende Verwandte, aber sehen Sie, Henry, ihr Gatte, hatte auch Familie, und darum ist heute sein Vetter an mich herangetreten, Barnaby, Barnaby Stokes-Fenton, die Familie hat Geld, das hört man, nicht wahr - wo war ich? Richtig, die Stokes-Fentons wollen Vivian gerne zu sich nehmen. Sie haben ihre eigene Tochter verloren, tragische Sache das, der verfluchte Typhus -« Nein, Typhus war nicht gut, den hatte er schon der Großmutter verpasst… Er hustete schnell. »Die verfluchte Spanische Grippe, wollte ich natürlich sagen, und jetzt ist das Kinderzimmer verwaist, und die arme Nanny hat drei Monate lang nichts zu tun gehabt, als immerzu Strümpfe zu stricken, und… egal, ich habe schweren Herzens gesagt, dass sie das Kind haben können, und jetzt hat Mr. Barnaby gleich seinen Chauffeur geschickt, um Vivian mitzunehmen.«
Mrs. Gyrth schnaubte. »Das wüsste ich aber!« Sie zerrte ihn resolut in den Flur. »Mr. Jessup, Sie sind nicht Sie selbst, und wer sie so zugerichtet hat, nur um Ihnen das Kind abzunehmen, das Sie so aufopferungsvoll zu sich genommen haben - wirklich, das kann kein Gentleman sein, und so einem Schuft gebe ich die kleine Vivian niemals in die Hand, und wenn er mir zehn Chauffeure ins Haus schickt.«
Instinktiv hätte Percy seine Wirtin am liebsten umarmt und geküsst, aber er erinnerte sich vage, das an diesem Tag schon einmal getan zu haben - einmal war impulsiv, aber zweimal war ein Annäherungsversuch, und sie sollte nicht auf die falschen Gedanken kommen. Sie war immer noch alt genug, um seine Mutter zusein. »Mrs. Gyrth, Sie sind die Beste, wie immer«, sagte er. »Aber… Sie sind ja nicht dabei gewesen. Mein Zustand, also - das ist nicht Mr. Barnabys Schuld.« Er schüttelte den Kopf. »Nur die Aussicht, das liebe kleine Mädchen schon wieder hergeben zu müssen, Sie verstehen schon…« Es gab Momente, da fiel ihm das Lügen deutlich schwerer als in anderen.
»Kommen Sie mit.« Mrs. Gyrth schob Percy küchenwärts. »Ich koche Ihnen erst mal einen starken Kaffee. Wegen Ihnen habe ich ja immer welchen im Haus, und gerade können Sie einen vertragen.« Sie seufzte. »Aber dass wir die Kleine jetzt schon wieder hergeben sollen - sie schläft gerade, das arme Ding. Wenn ich mir vorstelle, sie wacht morgen auf und ist irgendwo in der Fremde -«
Geschäftig machte sie sich ans Werk. Zugegeben, Percy wohnte nicht bei ihr, weil ihr Kaffee irgendwie bemerkenswert gewesen wäre; jedes Mal, wenn er statt Tee danach verlangte, gab sie ihm deutlich zu verstehen, dass sie das Kaffeetrinken für eine unenglische Unsitte hielt, und nach ihrem missbilligenden Gesichtsausdruck würden als Nächstes die Türken London belagern, wenn er so weitermachte - aber jetzt brühte sie ihm den Kaffee ohne Murren auf, und er war ihr dafür dankbar. Wenn er nur seine Gedanken etwas besser hätte ordnen können!
»Ich werd sie selbst hinbringen«, hörte er sich sagen. »Ich werde Vivian nicht einfach diesem Chauffeur in die Hände drücken, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Allein der Geruch des Kaffeepulvers, wie es durch das Mahlwerk glitt, brachte seine Lebensgeister wieder in Reichweite. »Werde fragen, ob ich dort übernachten kann, wenn es dann zu Weinen und Schreien kommt und Vivian zu unglücklich, kann ich sie gleich wieder zurückbringen. Ich habe ihr versprochen, ich lasse sie nicht allein.«
Heißes Wasser traf auf frisch gemahlenen Kaffee, und was Percy erst für das Pfeifen des Kessels gehalten hatte, war Mrs. Gyrth, die laut schnaubte. »Na, das ist ja auch das Mindeste! Wissen Sie was, ich werde auch mitkommen. Nicht Ihretwegen, aber das kleine Würmchen ist mir doch schon ans Herz gewachsen.«
Percy musste husten und verschluckte sich an seinem eigenen Atem. Er durfte nicht zulassen, dass Mrs. Gyrth auf die Stokes-Fentons traf - selbst wenn er vorher noch die Zeit finden sollte, die Familie in die Geschichte einzuweihen, die er seiner Wirtin aufgetischt hatte, würden die sein Spielchen nicht mitspielen. Wenn es irgendwo in London glühendere Verfechter der Wahrheit gab, dann waren das Mr. und Mrs. Stokes-Fenton. Sie arbeiteten schon lange mit der Upminster-Gesellschaft zusammen, aber sie waren keine Medien, glaubten noch nicht einmal an Geister - ihnen ging es darum, Scharlatane zu entlarven, und da sich doch leider ein Großteil der Spukfälle als mehr oder weniger geschickte Fälschungen herausstellten, war ihr Geld bei Sir Rodrick in guten Händen - aber niemals hätte dieses schnörkellose Paar in Percys Ränkespielen mitmachen wollen.
»Mit Verlaub, Mrs. G.«, sagte er. »Ihr Engagement in allen Ehren, aber wir wollen kein großes Drama daraus machen - kein größeres, als das arme Kind ohnehin schon durchgemacht hat. Vivian soll nicht merken, wie ungern wir sie gehen lassen - sie soll es gut haben bei den Stokes-Fentons, und wenn wir ihr jetzt Angst einreden und ein schweres Herz, dann wird sie nur noch unglücklicher.« Der Kaffee war anständig, und doch hätte Percy in dem Moment ein Cognac bevorzugt. »Sie ist meine Nichte - Base - was auch immer, und ich kümmere mich darum. Danke für alles, was sie für die Kleine getan haben.«
Er hätte gerne gefragt, ob Vivian denn dann die Puppe behalten durfte, aber das erschien ihm dann doch irgendwie unangemessen. Bestimmt konnte Vivian bei den Stokes-Fentons Dutzende von Puppen haben. Die hatten schon drei Kinder, da kam es auf eines mehr oder weniger auch nicht mehr an… Percy stürzte den Kaffee runter, was nicht gut gehen konnte und es auch nicht tat, er war noch brühend heiß, und die groben Körner gerieten ihm dazu noch in den falschen Hals, aber das passte zu der Wut, die Percy gerade überkam. In diesem Moment war die Welt nur ungerecht. Die Stokes-Fentons hatten alles, Kinder, einen Stammbaum, ein stattliches Haus, ein Leben, und was hatte Percy? Er stand vom Küchentisch auf und fühlte sich schwanken, hielt sich an der Stuhlkante fest, und schüttelte den Kopf.
»Ich werde sie jetzt holen. Der Fahrer da draußen kommt sonst nachsehen, warum ich nicht wiederkomme. Sagen Sie mir nur, wo ich Vivian finde.«
»Nichts da«, sagte Mrs. Gyrth. »Ich habe sie zu Bett gebracht, da werd ich sie auch noch wecken dürfen. Ich bringe sie Ihnen gleich hinunter, und Sie nüchtern bis dahin noch ein wenig aus - da, sehen Sie den Topf mit den eingelegten Gurken? Die haben Wunder gewirkt an meinem Walter, wenn der mal… Na, Sie wissen schon. Jedenfalls setzen Sie sich wieder hin. Ich kümmere mich um alles.«
Am Ende war sie auch nicht anders als Sir Rodrick. Mrs. Gyrth hielt Percy für ein bedauernswert lebensunfähiges Geschöpf, vielleicht hatte sie ja sogar recht damit, in jedem Fall war er ein Feigling ohne Rückgrat, der nicht mal in der Lage war, für das einzustehen, was ihm wichtig war… Percy steckte sich eine Zigarette an und drückte sie schuldbewusst wieder aus, als ihm aufging, dass Mrs. Gyrth überall im Haus das Rauchen dulden mochte, aber nicht in ihrer Küche. Dann wartete er, bis seine Wirtin das Mädchen aus dem Bett geholt hatte und in Kleid und Mantel gepackt hatte, lange konnte es ja nicht dauern.
Zeit, das hinter sich zu bringen. Percy lachte grimmig, als er in den Flur trat und seinen Trenchcoat gürtete. Er hing an dem Mantel, aber dass er den wirklich während des Krieges getragen haben sollte, konnte er sich nicht mehr vorstellen. Das Zeug zum Offizier hatte er nicht und konnte es auch damals nicht gehabt haben, wahrscheinlicher war doch, dass ihm nach Kriegsende ein mitleidiger Kerl oder das Rote Kreuz den Mantel geschenkt hatte, gab ja genug Männer, die keine Mäntel mehr brauchen konnten -
Dann hörte er Schritte auf der Treppe, langsam, tapsig und unsicher, als Mrs. Gyrth das Mädchen herunterführte, vorsichtig und an beiden Händen, denn Vivian sah aus wie jemand, der nur zur Hälfte aus dem Schlaf gerissen worden war und zur anderen noch tief und fest schlummerte. Unter den Arm hatte sich die Frau die alte Puppe geklemmt, offenbar wollte sie das Mädchen wirklich nicht ohne gehen lassen, und Percys Herz wurde noch schwerer, als es in diesem Moment ohnehin schon war.
»Ich übernehme das dann«, sagte er, und als Vivian ihm fast in die Arme kippte vor lauter Müdigkeit, hob er sie hoch und trug sie aus dem Haus ins Auto, mit vorsichtigen Schritten und ohne zu stolpern, es hing mehr davon ab als nur seine Kniescheiben. Vivian leistete keinen Widerstand. Hatte Percy noch gehofft, das Mädchen würde den Transport schlichtweg verweigern, war es doch schlichtweg nicht in der Verfassung dazu. Kaum saß es auf dem Rücksitz, klappte ihm auch schon wieder der Kopf nach vorne, und es war tief und fest eingeschlafen. Eigentlich machte es nicht einmal den Unterschied, ob Percy nun mitfuhr oder nicht, aber versprochen war versprochen, und vielleicht - nicht, dass Percy selbst dran geglaubt hätte - würden sich auf dieser Fahrt noch ihrer beider Geheimnisse von selbst offenbaren.
Der Chauffeur der Stokes-Fentons blickte ihn nur an, ohne mit der Wimper zu zucken, als Percy Anstalten machte, auf der anderen Seite neben Vivian einzusteigen. »Beabsichtigen Sie, das Kind zu begleiten?«
»Wenn es keine Umstände macht«, antwortete Percy. Eigentlich hätte er sich die ganze Bittstellerei dem Mann gegenüber schenken können - Personal war dafür da, Befehle auszuführen, aber solange Percy nicht wusste, wo er gegenüber diesem Fahrer stand, ob er der Oberschicht entstammte oder selbst nur ein Diener war, blieb er doch lieber zumindest höflich.
»Wie Sie wünschen, Sir«, sagte der Chauffeur. Glücklich wirkte er nicht, vermutlich dachte er, dass er dann gleich in der Nacht Percy würde wieder nach Lambeth zurück kutschieren dürfen - und das konnte gut sein, da Percy noch nicht sagen konnte, ob er wirklich das Gästezimmer der Stokes-Fentons bekommen durfte und nicht postwendend wieder heimgeschickt werden würde. Aber was ein guterzogener Fahrer war, stellte keine solchen Fragen.
Vivian schlief während der Fahrt, in ihren inzwischen getrockneten Wollmantel gehüllt wie in eine Decke, und im Schlaf war ihr kleines Gesicht immer noch bleich, aber doch viel menschlicher - es war schon ein Unterschied, ob sie ihre Augen offen hatte oder geschlossen. Die Puppe hielt sie fest im Arm, und auf ihrem Mund lag fast ein Lächeln.
Aber für Percy wurde die Fahrt zur Qual, es war im Wagen fast so kalt wie draußen, sein Atem gefror, und zu allem Überfluss hatte er noch einen Schluckauf bekommen, den er nicht unterdrücken konnte. Der Chauffeur ignorierte das, auch wenn es ihm nicht entgegen konnte, doch was Percy in dieser Situation gern getan hätte, nämlich mit jemandem reden, konnte er nicht. Normalerweise hatte er kein Problem damit, seine Sorgen und Nöte für sich zu behalten, aber wenn er betrunken war, steigerte das sein Mitteilungsbedürfnis. Ein Grund mehr, dass er normalerweise einen Bogen um Alkohol machte - das hieß nicht, dass er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, auch wenn er das besser getan hatte, aber er wollte auch nicht für einen Temperenzler gehalten werden. Wenn er die Wahl hatte, trank er Kaffee, und all das wusste Sir Rodrick ganz genau; Percy wurde nicht müde, ihn im Geiste zu verfluchen.
Aber immer noch besser, er saß hier im Fond der Limousine und hatte niemanden zum Reden, als dass er sich der falschen Person geöffnet hätte: Miss Konstantijn war ihm schon bedenklich nah gekommen, als er in den Räumlichkeiten der Upminster-Gesellschaft am Kamin saß und weitertrank, während er auf den Stokes-Fenton’schen Chauffeur wartete, und nur Sir Rodricks beherztem Eingreifen es zu verdanken, dass er sie dann doch von Percy weggelotst und vermutlich in ein Fachgespräch verwickelt hatte. Und noch schlimmer wäre es wohl geendet, wenn Percy daheimgeblieben wäre, um Mrs. Gyrth in ihrer Küche das Herz auszuschütten.
Die Fahrt kam Percy sehr lang vor, aber dann wieder durfte er sich nicht darüber wundern, es hatte ja auch lange gedauert, bis der Fahrer in der Glasshouse Street angekommen war, aber da hatte Percy noch gemutmaßt, dass der Mann unterwegs vielleicht ein Bier getrunken hatte - aber tatsächlich ging es aus der City hinaus; auch wenn die Stokes-Fentons ein Stadthaus in London besaßen, hielten sie sich jetzt dort nicht auf, sondern überwinterten in ihrem Landsitz in St. Mary Cray. Immerhin, der Ort hatte einen Bahnhof, und sollte sich hinterher der Fahrer weigern, Percy wieder zurückzubringen, konnte er den Zug nehmen, und es war nur ein bisschen bittere Ironie, dass er dann wieder ausgerechnet in der Victoria Station landen würde, nur diesmal ohne Vivian.
Als der Fahrer endlich anhielt, konnte Percy nicht anders, als das herrschaftliche Anwesen mit seinem eigenen Haus zu vergleichen. Es war sicher ein besseres Heim für ein kleines Mädchen, nicht nur, weil Vivian in einem richtigen Bett schlafen konnte und nicht auf dem Sofa liegen musste, auch der große Garten war sicher schöner für ein Kind, mit viel Platz zum Spielen, wenn der Gärtner es erlaubte… Percy zwinkerte beim Aussteigen, irgendetwas stimmte nicht. Die Knie schlotterten ihm, er schob es auf die Kälte statt auf den Alkohol, schließlich hatte er nichts mehr zu trinken gehabt, nur den Kaffee, aber er traute es sich nicht mehr zu, Vivian zum Haus zu tragen - das war auch eine deutlich höhere Treppe als bei ihm, und dazu noch eine längere Auffahrt - und so musste der Chauffeur eingreifen.
Gemeinsam schafften sie es, das Mädchen aus dem Auto zu heben, ohne es aufzuwecken, und dass dann der Fahrer das Kind trug und Percy nur die Puppe, war eine bedauerliche Arbeitsteilung, aber wenn es nicht anders ging, musste es eben so sein. Aber vor Percy Augen blitzten plötzlich Bilder auf, nur Bruchstücke wie von schlechten Negativen - ein Garten, eine Schaukel, ein Fetzen Himmel - er versuchte, sich daran festzuhalten, aber es wollte nicht bleiben. Percy musste sich das merken, und vielleicht noch einmal im Sommer wiederkommen und sehen, ob das Anwesen oder St. Mary Cray irgendwelche Erinnerungen bei ihm weckten. Dann hatte es sich immerhin Fall gelohnt, Vivian zu ihrer neuen Familie zu begleiten.
Sie wurden bereits erwartet. Mr. und Mrs. Stokes-Fenton waren nicht einmal erstaunt, dass Percy mitgekommen war, und während sie sich zusammen mit der Haushälterin des Mädchens annahm, bat Mr. Stokes-Fenton Percy in den Rauchsalon.
»Erzählen Sie«, sagte er. »Sir Rodrick sagte, das Kind ist Ihnen zugelaufen, aber die genauen Umstände habe ich nicht ganz begriffen.« Er begann, sich seine Pfeife zu stopfen, und Percy griff erleichtert nach seinem Zigarettenetui. Etwas weniger erleichtert war er, als Mr. Stokes-Fenton ihm, vermutlich mehr aus Höflichkeit denn Kalkül, einen Sherry anbot. Besorgt und gleichzeitig erfreut nahm er an.
Es wurde ein längerer Abend. Viele Fragen waren zu beantworten, und das Interesse der Stokes-Fentons an dem Mädchen war begrüßenswert - sie sollten ruhig wissen, was sie erwartete, auch wenn Mr. Stokes-Fenton alle Andeutungen Percys, mit Vivian könnte etwas Übernatürliches los sein, grundsätzlich abblockte. Percy hatte nicht vor, sich mit dem Mann zu streiten. Wenn die Stokes-Fentons das Mädchen erst einmal näher kennenlernten, würden sie sich schon eines Besseren belehren lassen…
»Mr. Jessup?«
Percy schreckte hoch. »Ich bin… bin ich eingenickt?« Er stolperte über seine Zunge, aber das war dann wohl so. Das Wichtige war gesagt.
»Sie sehen aus, als ob Sie ein Bett brauchen«, sagte Mr. Stokes-Fenton. »Ich habe das Mädchen angewiesen, Ihnen ein Gästezimmer herzurichten.«
Percy lächelte müde. »Spukt es hier?« Er war Herrenhäuser gewöhnt ebenso wie Gästezimmer, nur dass er keine Kamera bei sich hatte, wofür er sich am liebsten entschuldigt hätte.
Er bekam keine Antwort mehr. Zumindest keine, an die er sich hinterher erinnern konnte.
aus: »Die Mohnkinder« (2011)